Claudia Piepenbrocks Arbeiten zeichnen sich durch eine Vielschichtigkeit aus, die den Betrachter zugleich anzieht und auf Distanz hält. Klar und komplex betreibt die Künstlerin konsequent die Verschmelzung pardoxer Zustände. Material und Konzept, Taktilität, eine haptische Gewissheit und Abstraktion verbinden sich in ihren eigenwilligen Material-Ensembles zu einem Konglomerat von Zuständlichkeiten, in dem Alltägliches zu Besonderem mutiert und Vernunft auf Emotion prallt. Nichts erscheint selbstverständlich und doch alles vertraut. Materielles und Immaterielles, Nähe und Distanz kulminieren in einer intensiven körperlichen Erfahrung, in der Zufall und Kontrolle, Dynamik und Statik, Ruhe und Bewegung, Leichtigkeit und Schwere, Halt und Spannung, Eigenheit wie Fremdheit nicht als Gegensätze, sondern als wechselseitiges Referenzsystem aufgerufen werden. Claudia Piepenbrocks Arbeiten erscheinen als Chronisten der eigenen potenziellen Veränderbarkeit. Mit ihnen zeigt sich die gegenwärtige Existenz als temporärer Zustand, der Formen der Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit in sich trägt.
Als Skulpturen im Raum strukturieren und verändern diese Arbeiten ihre Umgebung. Ihre prägnanten Ausformungen lassen voluminöse Körper entstehen, die mit ihrer weichen, biegsamen Materialität Assoziationen an organische Wesen aufkeimen lassen. Die Farbigkeit wechselt zwischen Gelb-, Grün-, Orange- und Rosatönen, während die sich vorwölbenden Oberflächen durch horizontal verlaufende Schnitte und Streifenmuster strukturiert werden. Mit den umfassenden Stahlrahmen werden Flächenformen definiert und als bildhafte Darstellungsträger erfahrbar.
Die stahlgerahmten Schaumstoffkerne inszenieren als skulpturale Setzungen im Raum den Körper als existenzielle Schnittstelle, an der sich die in der Produktion gewonnene Erfahrung mit der durch die Rezeption ausgelösten Empfindung zu einem Zustand permanenter Interferenz verdichtet. Organisch und doch abstrakt erscheinen Claudia Piepenbrocks Werke als plastische Gesten der Selbstversicherung. Mit den seitlichen Öffnungen der aus farbigen Schaumstoffflächen gebildeten Kabinen, die sich mit scheinbar eigenständiger Vitalität expansiv in den Raum wölben, offenbart sich ein betretbarer enger Innenraum, der für die Betrachter sowohl sinnlich als auch mental erlebbar wird. Betritt man das Innere der Kabine, scheint die Außenwelt mit ihren Geräuschen und optischen Reizen weitgehend ausgeblendet zu sein. Ganz auf sich selbst, auf die eigene körperliche Existenz und auf essentielle Bedürfnisse zurückgeworfen, gerät die vorübergehende Erfahrung von Ruhe und Abgeschiedenheit für die Rezipienten zu einem intensiven Erlebnis. Die Kabinen lassen damit Orte entstehen, die sich konzeptionell von jenen öffentlichen Orten unterscheiden, an denen normative gesellschaftliche Handlungsmuster vorherrschen. Piepenbrocks Arbeiten bilden skulptural formulierte Zonen des Übergangs. Mit ihrer isolierenden Materialität bieten sie Schutz für das eigene sinnliche Erleben und tragen so in sich den Verweis auf gesellschaftliche Freiräume.
Das Interesse der Künstlerin an der Visualisierung von Prozesshaftigkeit und Transformation gewinnt mit einer Serie von Papierarbeiten eine weitere Erfahrungsdimension. Ihre Selfies und großformatigen prints erscheinen als Darstellungsträger von vorübergehenden Zuständen. Bildkonstruierend sind neben bestimmten Belichtungspositionen aus Stoffstücken gefertigte Flächenformen, die sich überlappen oder teilweise verdeckt und mittels direkter Belichtung in einem jeweils gegebenen Zustand fixiert sind. Ihre Ablichtung führt damit zur Selbstabbildung, zur Darstellung einer besonderen wie eigenständigen, zustandsgebundenen Identität.
Mit Claudia Piepenbrocks Sprachskulptur 3 öffnet sich schließlich eine weitere Dimension ihres künstlerischen Schaffens. Die Auseinandersetzung mit Begriffen wie »Darstellen«, »Wahn«, »Fetisch« und »Zuhören« führt zu Fragen der Selbstdarstellung, Abbildung, Zurschaustellung, der Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit von Repräsentationsmustern und -systemen sowie zu deren gesellschaftlicher Relevanz: Im Ausstellungsraum befindet sich ein flaches Podest, das als prägnante skulpturale Setzung den Blick und die Aufmerksamkeit der Betrachter fokussiert. Seine begehbare Standfläche besteht aus einer Ansammlung silberner Metallkugeln. In eine bestimmte Ordnung gebracht, bilden sie ein in sich bewegliches Konstrukt, das den Gleichgewichtssinn der Ausstellungsbesucher herausfordert. Mit einer gewissen Vorsicht muss zunächst der eigene Körper in Balance gebracht werden, um sich auf die weiteren inszenatorischen Eingriffe der Künstlerin einlassen und konzentrieren zu können. Aus Lautsprechern sind gesprochene Worte und Sätze vernehmbar, die die Bandbreite und Bedeutungstiefen der eingangs genannten Begriffsfelder weitreichend ausloten. Dabei erscheint das Formulieren und Ausformen von Worten verschiedene Referenzpunkte im übrigen Werk der Künstlerin zu finden. Die Welt der Sprache ist als eine Art Steinbruch zu verstehen, dessen verbale Versatzstücke von Claudia Piepenbrock wie skulpturales Material bearbeitet, miteinander kombiniert, um eine bestimmte Idee herum formt, aushöhlt oder verdichtet werden, um damit den Darstellungs- und Bedeutungsgehalt von Worten, Sätzen und Begriffen grundlegend neu zu definieren, ähnlich der beständig in Balanceübungen begriffenen eigenen Position auf einem beweglichen Podest.
(Uwe Schramm)
Fotos: Stephan von Knobloch