Ausstellungsarchiv

Work in Progress

Roger Dickinson

Künstleraustauschprojekt Essen – Sunderland

Ausstellungsdauer: 17.03. – 16.04.2000

„My time at Kunsthaus has given me the opportunity to work and experiment for a very fruitful period of six weeks. There have been many new experiences here but, inevitably in so short a space of time, the main impact upon my work during my time here has been a change in perspective – a distancing from the familiar circumstances and situations the surround me in Sunderland. Ironically perhaps the work I’ve made here at Kunsthaus has become as much about „there“ as „here“. Work relating more directly to my stay her – which has been hugely enjoyable – must wait for the future.
The work exhibited in the kabinet, consisting of photographs, paintings and text pieces, draws from a broad range of experiences from the recent death of my father to being surrounded by a language only a very few words of which I understand, a situation in which one grasps at incidental details whilst the general context and sense of what is being said is a matter of blind guess work.“
(Roger Dickinson)

 

Die junge britische Kunst erregte im Herbst 1998 mit der Ausstellung „Sensation“ im Hamburger Bahnhof in Berlin – nomen est omen – großes Aufsehen. Diese zur Londoner Saatchi Collection gehörenden Arbeiten von 42 verschiedenen Künstlern sind ein Querschnitt der britischen Kunst der 90er Jahre, die von einer enormen Vielfalt an Materialien und Arbeitstechniken sowie einem radikal neuen Verhältnis zur Realität gekennzeichnet sind. Teils ernsthaft, teils mit (schwarzem) Humor setzen sich die Künstler mit ihrer Wirklichkeit, aber auch mit der Kunstgeschichte auseinander und bedienen sich bei der viktorianischen Kunst ebenso wie bei Pop oder Arte Povera.
Roger Dickinson ist der erste Künstler des Austauschprojekts „Briges – Brücken“, das das Kunsthaus Essen in Zusammenarbeit mit der Northern Gallery for Contemporary Art in Sunderland initiiert hat. In seiner Vielseitigkeit und Direktkeit ist er ein „typisch“ britischer Künstler und arbeitet als Bildhauer, Fotograf, Schriftsteller, Kunstjournalist, Designer, Maler sowie als Organisator von Projekten und Ausstellungen. Seit 1995 beschäftigt er sich mit dem Thema „Daedalus und Ikarus“, das auch in dieser Ausstellung anklingt. Es ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem kürzlichen Tod seines Vaters sowie mit der Befindlichkeit des Künstlers in einem Land, dessen Sprache er nicht versteht: „I am a monoglot“.
Während seines zweimonatigen Aufenthalts im Kunsthaus schrieb er an einem „Diary“ in kleiner Schrift auf einem großen Bogen Papier, den er täglich um 90 Grad drehte. Der Text wurde immer wieder von neuen Passagen überschrieben, so daß er schließlich – bis auf einige durchscheinende Worte – unleserlich wurde. Dieses „Diary“ ist Sinnbild seiner Wahrnehmung der deutschen Sprache, von der er nur ein paar Bruchstücke, aber nie den gesamten Kontext verstand. Diesen Gedanken bringen auch seine Fotoarbeiten zum Ausdruck, bei denen lediglich ein belangloses Detail scharf gestellt ist.
In der Kabinett-Ausstellung zeigt er eine kleinere zweiteilige Arbeit sowie zwei große Wandarbeiten, die jeweils an einander gegenüberliegenden Wänden plaziert sind. „Here it holds good – hier gilt“ besteht aus zwei mit Blattgold belegten rostigen Metallplatten, an denen jeweils zwei auf transparente Folien gedruckte Texte hintereinander montiert sind. An der linken Wand sind zwei deutsche Texte zu lesen, an der rechten Wand zwei englische Versionen: Zunächst schrieb Dickinson einen Text über das Verhältnis zu seinem verstorbenen Vater, den er von Claudia Sacher, einer im Kunsthaus arbeitenden Künstlerin, ins Deutsche übersetzen ließ. Dieser deutsche Text wurde dann in ein bruchstückhaftes Englisch rückübersetzt und dieser Text wiederum von Roger Dickinson – mit Hilfe des Wörterbuchs – in ein noch bruchstückhafteres Deutsch gebracht.
Diese zweiteilige Arbeit bildet die Klammer zu der Stirnseite des Raumes, an der der Besucher das Reiterbildnis Wilhlms I. vom Essener Burgplatz wiedererkennen kann. Aus zahlreichen, wie Fahnen an die Wand geklebten Kopien setzt sich das Bild zusammen. Der Titel dieser Installation „You can take a horse to water, but you can’t make it think“ basiert auf einem englischen Sprichwort, das allerdings mit „drink“ endet. Die Analogie von Herrscher als Staatsoberhaupt und dem pater familiae ist offensichtlich. Von einem gebogenen Ast, der die Kontur des Pferdes aufnimmt, hängt getropftes Wachs herab, das auf die Vergänglichkeit sowie auf den Mythos von „Daedalos und Ikarus“ verweist. Der goldene Apfel ist ebenfalls symbolisch mehrfach konnotiert und läßt an Sündenfall, an die goldenen Äpfel der Hesperiden oder an Wilhelm Tell denken – und da rekurriert er wieder auf das Thema „Vater und Sohn“. Der Reiter selbst ist verhangen von einer senkrechten Papierbahn, auf dem – kaum noch leserlich – in verwaschener Tinte „I was I will never be again Remember“ steht.
An der gegenüberliegenden Wand Roger Dickinson selbst: Ausgangsmaterial ist hier eine Fotografie mit Selbstauslöser, wiederum kopiert und mehrfach vergrößert. Er hat einen Pappkarton über den Kopf gestülpt, der – wie er sagte – besser Deutsch spräche als er selbst, beherrscht dieser doch immerhin fehlerfrei das Wort „Mehrwegkarton“. Vor dem wohl allzu mächtigen Patriarchen verbirgt der Künstler sein Gesicht und läßt stattdessen Blumen sprechen in Form von mit den Köpfen nach unten hängenden Tulpen, die er nur an einer Stelle, links neben sich, aufgerichtet montiert hat.
In seiner Ausstellung zieht Roger Dickinson viele Register künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten und verwebt die Themen „Vater – Sohn“ und „(Fremd)sprache“ auf subtile und humorvolle Weise. Wir danken ihm für seine Arbeit im Kunsthaus Essen und wünschen ihm viel Glück und Erfolg für die künstlerische Zukunft.

(Carola Schneider)