Ausstellungsarchiv

Planet der Körper

Dore O.

Ausstellungsdauer: 15.09. – 14.10.1990

Die Filmemacherin, Fotografin und Malerin Dore O. arbeitet mit Bildern, gleichgültig in welchem Medium sie sich bewegt – sie arbeitet mit Bildern, die sichtbar werden und mit Bildern, die sichtbar machen, wobei der Ursprung dieser Bilder stets im Unsichtbaren liegt und ihre Gegenwart sich ins Nicht-Sichtbare entgrenzt. Was dabei zum Vorschein kommt, was aufscheint und in Erscheinung tritt, ist bar jeder literarischen Bedeutung, verbalen Verordnung und theoretischen Verortung, sondern ist wesentlich freigesetztes Bild, das weder vorgibt, eine fadenscheinige und vordergründige Illusion von Wirklichkeit zu imitieren und zu reproduzieren, noch stillgestellt symbolträchtigund zeichenhaft gerinnt.
Diese Bilder verdichten sich eher schemenhaft und ungreifbarin im Raum und in der Zeit verschwebenden Palimpsesten, die vage wandernde Zentren von Bedeutung umspielen und flüchtigwie im Traum, schwerelos wie im Flug, Erscheinungen, Vorstellungen, Assoziationen, Projektionen, Wünsche und Stimmungen – anscheinend Sichtbares und scheinbar Unsichtbares miteinander verknüpfen, das, wie von einem imaginären und inflationären Sog insgeheim erfasst, sich sammelt, einzig umsich zu verströmen. Dingfest ist in diesen Bildern, derer man nicht habhaft werden kann, nichts zu machen, doch man hüte sich davor, ihre Freizügigkeit mit Unverbindlichkeit in eins zu setzen. Vielmehr waltet in diesen Bildern eine strenge und unnachgiebige Disziplin, die jenseits der Worte nach dem Verschwinden derWirklichkeit, ihrer Gewissheit und ihrem Bewusstsein, im Zwischenraum der Bilder den verdeckten und verschütteten Energien des Sichtbaren, die nicht domestiziert und nicht zielgerichtet im Untergrund und an der Oberfläche treiben, anscheinend im Verborgenen nachspürt stille Ahnung mutet Schweigen an.
Technisch betrachtet, sind Dore O.’s Fotografien, die im Zentrum dieser Betrachtung stehen, Polaroidaufnahmen, die durch vielfältige Eingriffe und Manipulationen verändert, die Vorlage für die monumentalen Vergrößerungen sind, die denEndstatus dieser Arbeiten bezeichnen. Materielle Verletzungen und partielle Zerstörungen der Oberfläche, Kratzer, Einschnitte, Verzerrungen, Verwerfungen, Verschiebungen der noch weichen und formbaren Bildschicht, mechanische und chemische Eingriffe in den Entwicklungsprozess der Polaroidaufnahme, damit verbundene Verfärbungen, Übermalungen und Mehrfachbelichtungen, inszenierte Dramaturgie und aleatorische Momente verbinden sich in den Großformaten jenseits ihrer willkürlichen und unwillkürlichen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte zum Bild, das alle technischen Prozesse und künstlerischen Manipulationen in sich aufhebt, zeitlos im Raum versammelt und verwandelt. Die Transformation der Technik – gleichgültig wie vielschichtig und komplex sie ist – kulminiert im Bild, in dem sich die unterschiedlichen Verfahren und verschiedenartigen Potenziale durchkreuzen, überlagern und zum Einstand kommen, denn die Metamorphose von zeitlichen Prozessen und Prozeduren in räumliche Beziehungen und Bezüge ist in diesen Arbeiten mit ihrer Gleichordnung identisch. Diaphan und simultan verkörpern sie keine unterschiedlichen Bildebenen, sondern entfalten widersprüchliche Potenziale, indem jede Verhüllung zugleich eine Enthüllung ist, jede Überlagerung nichts anderes als den durchscheinenden Grund dieser Bilder hervortreten lässt. Wesentlich ist, dass jedes Bild mehrere Bilder ist. In ihrer reinen Sichtbarkeit und schieren Gegenwärtigkeit öffnen sich diese Bilder nach allen Seiten – fraglos in ihrem Sein scheinen sie zeit- und geschichtslos zu sein, beziehungsweise in ihrer Beziehbarkeit und Bezüglichkeit, in der sich Alltägliches und Archaisches ebenso vermittelt und unvermutet trifft wie Offenbares und Offenbartes.
Privatheit, die in den Studien und Porträts, den Details der Inszenierung, in scheinbar vertrauten Silhouetten und anscheinend bekannten Gesten auftaucht wie ein Nachbild, unversehens in Intimität, in der die Nähe Voraussetzung und Gradmesser einer uneinnehmbaren Distanz ist, vor der jedegeschwätzige Schilderung verstummt und jede wortreiche Erkärung versagt.In der Intensität der Wahrnehmung verdichtet sich offenbar Vertrautes unausweichlich atmosphärisch bis zur Unerträglichkeit, gesättigtes, übersättigtes Sein, das plötzlich bedeutungslos ist und schlagartig entrückt – unweigerlich dem Zugriff entzogen, indem jede Form der Privatheit, der Anschein der Vertrautheit dem Geheimnis preisgegeben wird.
Diese Bilder sind nicht handhabbar und auslegbar, sondern ganz bei sich in ihrer bedingungslosen Offenheit hermetisch verschlossen. Rationalität setzt aus, Visionen ziehen durch den Kopf und auch vorüber, Gedankenfetzen treiben haltlos durch den Raum, Wirklichkeitsfragmente verlieren sich in Phantasmagorien und Halluzinationen, unauflöslich schweben Schwaden,die das Bild verunklären; das sich nur verhüllt jenseits von Sein und Schein entdecken kann, denn alle Grenzen sind bedeutungslos, hat Wirklichkeit erst ihren Ort verloren. Wirklichkeit, ganz Projektion, versinkt in sich, im Strom der Bilder, die Dore O. in ihren Arbeiten entfesselt, traumverloren, ganz bei sich, ist der Traum verloren und Wirklichkeit ist Helle, in der Mitte des Seins bar jeden Seins – reiner Schein, gleißend verzaubert die Entzauberung, die das Wort nicht lösen kann. -Euphorie. Licht treibt im Licht, überblendet Schein den Schein, allein schwarze Spiegel fressen Licht. Und so fällt mit diesen Bildern ein neues Licht, das wie der Blitz aus dem Dunkel kommt und aus dem Nichts – ein Licht, das Wirklichkeit trifft wie ein Boomerang, im Schattenwurf, im Ungewissen, Ungesagten, Ungesehenen – ein Looping von hinten, hinten aus dem Dunkel der Nacht – im Horizont der Freiheit.
(Text: Karin Stempel)

Beitragsfoto: Ingrid Weidig